Beratung heute - seichte Gewässer
Wir kennen alle Murphys Gesetze. Ja, das mit dem Butterbrot, das
zumeist auf die bebutterte Seite fällt und natürlich ein zweites: «Was
schief gehen kann, geht auch schief». Nicht ganz ernst gemeint oder
zumindest mit einem Augenzwinkern weiter gegeben. – Murphys
Gesetzen möchte ich ein weiteres hinzufügen: «Je mehr Beratung all
unsere Lebensbereiche durchdringt, desto oberflächlicher ist Beratung».
Doch bevor wir uns auf den Weg machen, die seichten Gewässer
auszuloten, sollten wir festlegen, von welcher Art Beratung wir
sprechen. – Ich meine damit eine strukturierte Gesprächsform, die nach
Regeln abläuft, und die das Ziel hat, Probleme oder Aufgaben zu lösen
oder einer Lösung zu nähern. In diesem Pool finden wir
Coachingangebote, Eheberatungen, Mediationen, aber auch das
Gespräch mit dem Schulpsychologen über Ihr Kind.
Beratungsanwendungen sind in den letzten zehn Jahren explodiert.
Gibt es noch Bereiche des Lebens, die nicht in irgendeiner Form von Beratung durchdrungen sind? - Völlig unübersichtlich, wer wen
beratet, wo Beratung in Arbeitsorganisationen eingebettet ist, wie weit Coaching und Beratungsansätze als eine von vielen
Führungsfunktionen wahrgenommen wird, ganz zu schweigen von dem was Beratung erreichen möchte. Und natürlich stellt sich bei
einem derart wuchernden Angebot die argwöhnische Frage, ob es überhaupt noch Beratung per se gibt oder ob nicht Beratung einer
«hidden agenda» folgt und nur noch das Vehikel für ganz andere Zwecke ist.
Wie kommt es dazu, dass das Konzept Beratung zu dem Erfolgsmodell geworden ist, welche Hoffnungen und Erwartungen sind mit geschürt worden?
Blicken wir dazu zurück und tauchen in die Geschichte ein, wo wir bei Herodot von Halikarnassos Halt machen. Der Text ist um 440 v. Chr. Verfasst worden
und handelt von Kroisos. Als sie dort angekommen waren und die Geschenke überbracht hatten, richteten sie an die Orakel folgende Frage: "Kroisos, der
König der Lyder und vieler Völker, der euch für die einzig wahren Orakel hält und euch zum Dank für eure zutreffende Antwort diese Geschenke sendet,
richtet jetzt an euch die Frage, ob er gegen die Perser ziehen und ob er sich dazu nach Bundesgenossen umsehen soll." Beide Orakel antworteten darauf
übereinstimmend, wenn er gegen die Perser zöge, würde er ein grosses Reich zerstören, rieten ihm aber auch, sich nach Bundesgenossen umzusehen und
sich zu erkundigen, wer die Mächtigsten unter den Griechen wären.
Halten wir fest: Da werden zwei Orakel befragt, die renommiertesten Beratungsinstitutionen der damaligen Zeit, das Orakel in Griechenland (Delphi) und
das in Libyen. Die Gesandten werden mit Geschenken auf die Reise geschickt, bis sie wieder zurück sind und berichten können, vergehen Wochen. Was für
Aufwände! Hier der König der Medeer, die Kriegskasse gefüllt bis oben, sein Heer aufgerüstet und begierig, seine Mittel einzusetzen um seine Macht zu
mehren, dort mit den Persern ein Gegner, den zu schlagen ihm nebst Ruhm und Ehre ein Riesenreich zu Füssen legen würde, und dann zögert er, setzt den
gesamten Kriegszug auf Stand-by bis der Spruch des Orakels und seine Deutung vorliegt! Misstraut Kroisos seiner eigenen Einschätzung? Braucht er die
Legitimation des Orakels um seine Mitstreiter zu überzeugen? Heute würden wir wohl von Unsicherheitsabsorption reden, aber dieser Begriff war zu Kroisos’
Zeiten wohl noch nicht gebräuchlich.
Nun, heutige Führungsgremien scheinen sich oft wie Kroisos zu verhalten. Consulting Firmen werden beigezogen um neue Dienstleistungspakete zu
lancieren, um interne Strukturen umzubauen, um Zukäufe zu planen und Standorte zu redimensionieren und was an Entscheidungen in einem Unternehmen
noch so anfallen mag. – Von aussen betrachtet würde man eigentlich meinen, dass die den Consultants zugeschobene Aufgaben eigentlich das Kerngeschäft
von Führung und Management sein müssten. Warum erledigen sie diese Aufgaben nicht selbst? – Weil die Führungsgremien ihre Verantwortung nicht mehr
wahrnehmen? Weil sie sich erst trauen für eine Sache einzustehen, wenn sie die Expertisen ihrer Berater als Schutzschild zu ihrer eigenen Absicherung
einsetzen können? Weil Prognosen, wie sich zukünftig Märkte und das finanzielle Umfeld entwickeln, prinzipiell unsicher sind?
Doch gehen wir nochmals zurück und betrachten etwas näher Kroisos’ Consulting Unternehmen: Die Hauptfigur ist die jungfräuliche Priesterin des Orakels,
die Pythia (Jungfräulichkeit ist heutzutage als Vorbedingung um Berater zu werden, fallengelassen worden). Als Priesterin dient sie der Gottheit, hat daher
eine Stellung ausserhalb der Gesellschaft, des Machtgefüges, all den Verstrickungen, sie ist integer, steht ausserhalb. Dass sie ihre Weisheiten in Trance von
sich gibt , ist in doppelter Hinsicht von Vorteil. Die Formulierungen sind rätselhaft vage gehalten und bedürfen der Interpretation. Und, zweitens, die Pythia
kann nicht auf den Wahrheitsgehalt ihrer Ratsprüche behaftet werden. Es sind ja nach Lesart der Griechen nicht die Priesterin, sondern die Götter des
Tempels, die durch sie sprechen. - Pech nur, wenn der Spruch falsch ausgelegt wird wie bei Kroisos und dieser mit dem Feldzug sein eigenes grosses Reich
zerstört.
Zeitsprung ins Jahr 1481. Die damalige Eidgenossenschaft ist in der Krise, ihr droht die Spaltung, eine Einigung an der Tagsatzung von Stans scheint in weiter
Ferne. Und dann geschieht das kleine Wunder, das als Stanser Verkommnis in die Geschichte geht. Beide Lager einigen sich darauf, den Einsiedler Niklaus
von der Flüe um Rat zu fragen, worauf die zerstrittenen Parteien eine beidseits akzeptierte Lösung erzielen und so die existenzielle Krise der noch jungen
Eidgenossenschaft abwenden. – Interessanterweise weiss man nicht, wie der Eremit vorging. Welche Mittel hatte er eingesetzt, wie gestaltete er den
Beratungsprozess? Eher in Richtung Mediationsverfahren, oder hatte der Eremit, dessen Autorität einzig auf seinem tiefen Glauben gründete, deswegen er
der göttlichen Stimme folgte und sich von der Welt und seinen Lieben in die Einsamkeit zurückzog, die Türe seiner Klause verschlossen und den Gesandten
mal tüchtig die Kappe gewaschen? – Wir können nur mutmassen.
Mit dieser Episode erkennen wir zwei weitere Beratungselemente: Das eine ist Verschwiegenheit, das zweite Vertrauen. Wenn es in einem Beratungsprozess
gelingt, Vertrauen zu schaffen zwischen zerstrittenen Parteien, aber auch zwischen Ratsuchenden und Beratern, ist das die halbe Miete. Das Vertrauen, von
dem ich spreche ist nicht die sonor vorgetragene Worthülse eines Bankers, der seine Risikopapiere anpreist, wie auch nicht die Folge eines charismatischen
Auftretens. Vertrauen ist vielmehr mit der Ernsthaftigkeit verknüpft, inwiefern ein Berater sich nicht einwickeln lässt und seine aussenstehende Position
unverrückbar beibehält, während er gleichzeitig engagiert Beratungsprozesse vorantreibt und für die gewählte Methodik Verantwortung übernimmt. Auf
seine Verschwiegenheit kann sich der Kunde verlassen, selbst in einer Zeit wo das Sammeln und Verknüpfen von Big Data alltäglich geworden ist. – Das
Beispiel von Niklaus von der Flüe weist uns auf etwas weiter Bemerkenswertes hin: Die Gesandten hatten sich auf den Weg zu machen, nicht umgekehrt.
Niklaus von der Flüe empfing, ungeachtet der Bescheidenheit seiner räumlichen Verhältnisse, er wurde nicht zur Tagsatzung beordert. Der vermutlich
beschwerliche Weg zu Niklaus von der Flüe weist uns im metaphorischen Sinn auf etwas Wesentliches hin: Auf der Suche nach Wahrheit, nach Erkenntnis,
nach einer Lösung oder nach Heilung hat man sich auf den Weg zu machen. Erkenntnis oder Erleuchtung wird sich erst nach mühsamem Begehen eines
Pfades einstellen, wenn überhaupt; dann erst, wenn die Wichtigkeit des Zieles verblasst und der Weg selbst zum Ziel wird. Da steckt im Kern ein Gedanke
drin, den wir auch im Zen, in der Meditation wieder finden.
Springen wir wieder zurück in die heutige Zeit. Systemische Beratung, Coaching, lösungsorientierte Ansätze und vieles mehr. Die Beratungsmethoden haben
einen Reifeprozess durchgemacht und präsentieren sich als ausgeklügelte, gut durchdachte Konzepte. Warum kommt es dann zu einer Verflachung, warum
seichte Gewässer?
Ich denke, es ist gerade der Erfolg von «Beratung», welcher deren substanziellen Werte aushöhlt und zur Verflachung beiträgt. Doch lassen Sie mich dazu
ausführen:
«Beratung» ist omnipräsent, «Beratung» hat sich als Querschnittsmethode etabliert und so den Weg in Institutionen und Organisationen gefunden.
«Beratung» ist eine Form der Kommunikation, welche immer häufiger die Stelle von «Führung» einnimmt. «Beratung» wird in ein raffiniertes Wording
verpackt, immer neu sich selbst erfindend und noch bessere Tricks versprechend um ja auf der In-Welle zu reiten. Was zäh und mühsam werden könnte, wird
ausgeräumt, Beratungsangebote werden nach marktökonomischen Grundsätzen getrimmt. – Und der Markt bekommt, was er will. Nämlich strukturierte
Angebote, die gut überblickbar sich innerhalb eines festen Rahmens bewegen. Prozesse, die kontrolliert ablaufen und keinesfalls über Seiteneffekte etwas
Unkontrollierbares, etwas Archaisches erzeugen dürfen. So schliesst sich der Kreis: Die Einkäufer auf dem Beratungsmarkt ordern was en vogue ist, um sich
dann mit jeder neuen Welle dem nächsten hippen Angebot zuzuwenden. Beratung als Konsumgut, es darf kosten, es darf ausgefallen sein, aber es darf nicht
über den gesetzten Rahmen hinaus selbstreferentiell reflexive Schlaufen eröffnen. Beratung, die im Personalwesen angegliedert ist, darf über 50jährige auf
die Pension vorbereiten, nicht aber sich zur strategischen Ausrichtung des Unternehmens äussern.
Ein zweites Argument für die Verflachung ist die Vermischung von Führung und Beratung. Das Verfügen von Coaching-Instrumenten bei Führungskräften
scheint bereits Standard zu sein. Warum eigentlich? Was spricht denn dagegen, dass in hierarchisch orientierten Strukturen Verantwortung und
Entscheidungsbefugnisse geklärt sind? – Ja, vermutlich wird der Grad an Vernetzung in Zukunft weiter zunehmen, Wissen und Informationen werden breit
zugänglich sein und die Autonomie von Einzelnen und Teams grösser. Führung dürfte entmythologisiert und als eine Rolle unter anderen betrachtet werden:
Umso wichtiger dann, Führung und Coaching zu trennen. Führung ist eine schlecht definierte Aufgabe und Führungskräfte sollten über viele, einander oft
widersprechende Rollen verfügen. Nur verpuffen Coachingwerkzeuge, wenn sie in den Dienst einer Sache gestellt werden, wenn sie Mittel zur Führung
werden. Es fehlt schlicht die neutrale Aussenposition. Fatal dabei: Wir gewöhnen uns an diesen Gebrauch von Beratungswerkzeugen (oder müsste man eher
von «Missbrauch» sprechen) und sehen, dass die Wirkung marginal ist. So trauen wir diesen Mitteln in anderen Händen, in anderen Settings ebenso wenig zu
und rufen stattdessen nach dem nächsten, neuesten Angebot.
Und wo finden sich heute die tiefgründenden Stellen im seichten Gewässer – wenn überhaupt?
An erster Stelle würde ich «Handwerk» nennen. Bei all den Konzepten und Hintergrundtheorien geht leicht vergessen, dass Beratungstätigkeit vor allem
Praxisanwendung ist. Es braucht eine komplexe Verknüpfung von Empathie, Beobachtung, dem richtigen und zeitgenauen Einsatz der
Interventionswerkzeuge, wie auch Hintergrundwissen und einen Theorierahmen, in welchen Beobachtungen gestellt werden. Und das alles in Echtzeit. Wie
bei jedem Handwerk braucht es gewisse Grundvoraussetzungen, Talent, vor allem aber Übung. Musiktheorie und das Wissen, welcher Taste ein bestimmter
Ton zugeordnet ist, macht noch längst nicht einen Konzertpianisten aus. Dasselbe in Beratung. Ob Beratung einem virtuosen Spiel gleicht, ist eng mit der
Person des Beraters verknüpft, mit seiner persönlichen, praktischen Anwendung. – Mich hat beispielsweise tief beeindruckt, wie Steve de Shazer und Insoo
Kim Berg in einem kurz vor dem Tod von de Shazer erschienen Buch Jahrzehnte nach ihrer Entwicklung der «Lösungsorientierten Kurzzeittherapie» (Solution
Focused Short Time Therapy) immer noch dieselben schlichten Techniken anwenden. Nicht, weil sie stehen geblieben sind, sondern weil sie über die Jahre
ihre Gesprächstechniken so verfeinert haben, dass jede einzelne Frage sitzt. Und eine grosse Erfahrung aufgebaut haben, um zu wissen, dass nach dem
Aushalten von längeren Pausen und dem vierten «und dann» die entscheidenden Hinweise des Klienten kommen.
An zweiter Stelle führe ich «Theorie» auf. Was ist die Hintergrundtheorie des beraterischen oder therapeutischen Handelns. Hier meine ich Defizite zu
orten. Konzepte, deren Wirkung durch willkürliche, abenteuerliche Erklärungsgebilde beschrieben wird, sind zumindest fragwürdig. Eine «Beratungstheorie»
soll einen Beobachtungs- und Deutungsrahmen aufspannen um so zu einer alternativen Perspektive zu gelangen. Sie soll also die Brücke zur Praxis
aufspannen. Ein Beispiel einer solchen Theorie wäre die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Diese präsentiert sich als in sich geschlossenes, stimmiges
Gebilde, das allerdings sich sehr abstrakt präsentiert und entsprechend schwer zu lesen ist. In geübten Händen erweist sich die Systemtheorie als
rattenscharfes Analyseinstrument, das neue Perspektiven eröffnet.
An dritter Stelle würde ich Bescheidenheit nennen. Soziale Systeme lassen sich anregen, stören bis gar hin zu zerstören. Immer aber kommt die Antwort, die
Reaktion von ihnen selbst. Anders gesagt, man muss sich von der Vorstellung lösen, man könne quasi beliebig eine vorausgesagte, beabsichtigte Reaktion
erwirken. Beispiel: Fragen Sie Ihren siebzehnjährigen Sohn, ob er so freundlich sei, am Samstagmorgen sein Zimmer aufzuräumen und anschliessend den
Wochenendeinkauf für die Familie zu übernehmen. Ihr Wollen und Ihre Anfrage dürfte wohl in den seltensten Fällen zum gewünschten Ergebnis führen. –
Bescheidenheit also, was die Möglichkeiten von Beratung, von Trainings, von Programmen betrifft. Echte Veränderungen brauchen oft Zeit und Geduld.
Bescheidenheit eröffnet neue Perspektiven. Wenn die Suche über den Schnell-fix-Baukasten hinausgeht, wenn die Fesseln von Konzepten und
Rahmenbedingungen fallen, wird Neues sichtbar, werden Erkenntnisse kommen.
Handwerk, Theorie, Bescheidenheit. Begriffe, die für Marketingzwecke ebenso attraktiv wie wollene Strümpfe sind. Aber sie liegen in einer Linie mit den
beiden genannten Beispielen aus der Geschichte. Ebenso wie diese stehen sie für altmodisch anmutende Werte und trotzen dem Mainstream. Gut möglich,
dass sie einen Weg aus den seichten Gewässern zeigen.
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